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Kulturelle Aneignung oder notwendiger Perspektivwechsel?

 

Artikel vom 23.08.2024

 

Ich habe als weiße europäische Autorin mit akademischer Ausbildung einen Western aus der Sicht einer cherokee-stämmigen Saloonprostituierten geschrieben. Ist das kulturelle Aneignung? Bestimmt. In diesem Artikel möchte ich darlegen, wieso ich mich für diese Protagonistin entschieden habe.

 

Die Wahl der Stimme einer cherokee-stämmigen Protagonistin ist nicht einfach nur der Aufhänger für eine exotische Kulisse oder dramatische Konflikte. Vielmehr strebe ich nach einem Bruch mit den gängigen Erzählungen im Western-Heftroman-Genre an, die überwiegend von weißen, männlichen Autoren geprägt sind.

 

Ein Genre zwischen Träumerei und kultureller Aneigung

 

Im Western-Heftgenre fabulieren deutschsprachige Autoren, die in der Regel keinerlei biografischen Bezug zu den USA haben, über das aufregende Leben im sogenannten Wilden Westen. Ein Prototyp dafür ist ohne Frage Karl May, der mit dem Finger auf der Landkarte die fiktionale Freundschaft seines Alter Egos Old Shatterhand mit dem Apachen-Häuptling Winnetou beschreibt. Sein Werk strotzt vor kulturellen Fehlern, Stereotypen und einer unterschwelligen Christianisierung der indigenen Bevölkerung. Gleichzeitig thematisiert es die Landvertreibung der Indigenen durch weiße Siedler. Seine Geschichten haben eine bedeutende Rolle im deutschen Verständnis und in der Wahrnehmung der amerikanischen Ureinwohner gespielt – und ihn selbst reich gemacht. Zu seiner Zeit war kulturelle Aneignung noch kein Thema.


Der deutsche Western-Heftroman hat sich seit den 1950er Jahren erheblich weiterentwickelt, als er durch die Popularität amerikanischer Westernfilme inspiriert wurde. In der Blütezeit der 1960er Jahre erlebte das Genre mit Serien wie "Winnetou" eine Vielzahl von Geschichten, die nicht nur Abenteuer, sondern auch gesellschaftliche Themen thematisierten. Die 1970er und 1980er Jahre zeichneten sich durch Experimentierfreude und die Vermischung mit anderen Genres aus, in den 90ern gingen die Auflagen dann zurück. In den letzten zwei Jahrzehnten zeigt sich jedoch eine Renaissance des Genres, die durch moderne Erzählformen und digitale Formate geprägt ist. Diese Entwicklung zeugt von der Wandlungsfähigkeit des Western-Heftromans.

 

Ich schreibe sechzig Jahre nach Karl May und mit einer Debatte im Rücken, die uns dazu aufruft und befähigt, sensibel über die Geschichten und Darstellungen zu reflektieren, die wir produzieren. Kulturelle Aneignung bezeichnet die unautorisierte oder unangemessene Übernahme von Elementen einer Kultur durch Mitglieder einer anderen, oft dominierenden Kultur. Eine zentrale Fragen, die sich mir als europäischer, weißer Autorin beim Schreiben eines Heftromans stellt, ist deshalb, wie ich narrative Stimmen diversifizieren kann, ohne die kulturellen Erfahrungen und Geschichten als bloße Kulisse zu verwenden.

 

Auf der Suche nach Komplexität und Wirklichkeit

 

In deutschen Western-Heftromanen wurde die indigene Bevölkerung traditionell oft stereotyp und einseitig dargestellt, häufig als unzivilisiert oder als Feinde der weißen Siedler – Klischees, die aus den klassischen amerikanischen Westernfilmen stammen. Diese Darstellungen simplifizierten die komplexen Kulturen und sozialen Strukturen der indigenen Völker und ignorierten deren vielfältige Perspektiven. Der Dialog über die Darstellung indigener Völker in der Literatur ist entscheidend, um ein nuanciertes Verständnis und eine gerechtere Repräsentation zu ermöglichen.

 

Meiner Protagonistin habe ich eine Kindheit in einem christlichen Missionierungsinternat zugeschrieben, in dem ihre kulturelle Identität gewaltsam abgeschnitten wurde. Dies entspricht dem tatsächlichen Schicksal tausender Kinder aus der indigenen Bevölkerung. Um die amerikanischen Ureinwohner in die vermeintlich überlegene westliche Zivilisation zu integrieren, gründeten christliche Missionare im 19. Jahrhundert sowie später die US-Regierung Internate für Kinder indigener Gruppen. Diese Institutionen hatten das Ziel, die Kinder von ihren Familien zu trennen und sie einer rigorosen Assimilation zu unterziehen, die oft mit der Absicht einherging, ihre Kulturen und Sprachen zu tilgen. Im Internatsleben wurden die Kinder gezwungen, europäische Bräuche anzunehmen, ihre eigenen Traditionen abzulegen und ihre Sprachen zu verlernen. Diese Praktiken führten nicht nur zu einem massiven Verlust kultureller Identität, sondern auch zu tiefen psychologischen und sozialen Traumata innerhalb der betroffenen Gemeinschaften, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart spürbar sind.

 

Meine Protagonistin hat kaum Bezug zur Cherokee-Kultur; lediglich die Erzählungen ihrer Großmutter aus ihrer Kindheit geben ihr eine bruchstückhafte Vorstellung. Jegliche Selbstwahrnehmung als Cherokee wird durch den Rassismus überschrieben, der in ihrem Umfeld normalisiert ist. Deshalb versucht sie, ihr Erscheinungsbild so anzupassen, dass ihre Abstammung verschleiert bleibt. Sie arbeitet als Saloon-Prostituierte in einer wirtschaftlich abgestiegenen Kleinstadt, gemeinsam mit zwei anderen Frauen, deren unterschiedliche kulturelle Prägung und Biografie im geteilten Alltag und in der Wahrnehmung ihres hauptsächlich männlichen Umfelds keine Rolle spielt. Sie sind zusammen auf das Kapital ihrer Sexualität reduziert.

 

Ein subversives Narrativ schaffen

 

Geschichten bieten eine Chance, Denkweisen herauszufordern und Veränderungen anzustoßen. Das Publikum von Heftromanen ist an bestimmte narrative Normen gewöhnt. Diese Normen möchte ich subvertieren und eine neue Perspektive anbieten. Indem Lesende im Rahmen einer Unterhaltungslektüre an Themen herangeführt werden, die in Western-Erzählungen oft unterrepräsentiert sind, hoffe ich, zum Nachdenken anzuregen.

 

Es war mir wichtig, ein Narrativ zu kreieren, das mit den oft eindimensionalen Darstellungen in Heftromanen bricht. Meine Entscheidung, einen cherokee-stämmigen Charakter in den Mittelpunkt der Erzählung zu setzen, ist eine bewusste Wahl, koloniale Narrative zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Die Protagonistin verkörpert den Verlust ihrer kulturellen Identität durch die gewaltsame koloniale Agenda, und ihre Verbindung zu ihrer Kultur verdeutlicht den Bruch, den die amerikanische Geschichte in Bezug auf die kulturelle Kontinuität indigener Völker bewirkt hat. Durch die Entkoppelung von ihrer Herkunft wird meine Protagonistin heimatlos. Das bietet die Grundlage, auf der sie zu einem Objekt innerhalb patriarchaler Strukturen wird .

 

Frau in einem Männer-Genre

 

In den Anfangsjahren des deutschen Western-Genres dominierten männliche Schriftsteller das Feld. Auch die Leserschaft war überwiegend männlich. In den letzten Jahren hat sich das Bild jedoch gewandelt, und das ist gut so: Mit einer zunehmenden Diversität in der Literatur und mehr Schreibmöglichkeiten stehen auch mehr Frauen und andere Geschlechter in diesem Genre im Vordergrund. Dennoch bleibt die Frage nach der Geschlechterverteilung im Genre interessant. Das Figureninventar der Geschichten ist heute immer noch überwiegend männlich – was der tatsächlichen Geschlechterverteilung im historischen sogenannten Wilden Westen entspricht. Schätzungen zufolge lag der Frauenanteil im Kalifornien des 19. Jahrhunderts bei nicht einmal zehn Prozent. Doch mit einem simplen Zählen der Figuren ist der Geschlechter-Gerechtigkeit nicht Genüge getan. Im Heftroman sind weibliche Figuren häufig Opfer, die gerettet werden oder auch nicht. Sie sind couragierte Helferinnen der männlichen Protagonisten. Oft fungieren sie als Trophäen. Eine Erzählung, die eine weibliche Lebensrealität in den Vordergrund stellt, ist selten.

 

Emanzipation wie im Märchen

 

Die Identität meiner Protagonistin wird also nicht nur durch die koloniale Praxis definiert, sondern auch durch die patriarchalen Strukturen der Gesellschaft des Wilden Westens. Ihre Existenz als Saloonprostituierte reduziert ihre Lebensrealität auf die Kommodifizierung ihrer Sexualität. Diese Sichtweise übernimmt meine Protagonistin zu Beginn des Romans selbst. Beim Lesen lernt man sie nur unter dem blumigen Namen kennen, mit dem sie sich den Spielern im Saloon vorstellt. Lediglich ein beschrifteter Stein ihrer Großmutter erinnert sie an ihren echten Namen – und an das Unrecht sowie den kulturellen Verlust ihrer Familie im Zuge der staatlichen Vertreibung und Deportation der Cherokee-Völker aus dem fruchtbaren Südosten der USA, um Raum für weiße Siedler zu schaffen. Ihre Stellung ist das Ergebnis einer Verwobenheit von Geschlecht, Rasse und ökonomischen Bedingungen, die im Kontext der westlichen Expansion betrachtet werden müssen.

 

Am Ende meiner Geschichte ist es das kulturelle Wissen ihrer Großmutter und die Solidarität der drei Prostituierten, die ihnen eine Emanzipation aus ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zwangslage ermöglicht. Ein bisschen ist das wie im Märchen. Doch brauchen wir solche Märchen – nicht als Einschlaflektüre, sondern als Prototypen alternativer Narrative.

 

„Wild ist das Land“ ist mein Versuch, die Geschichten marginalisierter Gruppen im populären Western-Genre respektvoll und kritisch zu beleuchten. Dabei möchte ich die Vielfalt menschlicher Erfahrungen würdigen und einen Dialog über kulturelle Repräsentation anstoßen - und zwar im knappen Rahmen von 90 Seiten Unterhaltungsliteratur. Natürlich bleibt die Frage, ob ich diesem Ziel gerecht werden kann. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, jeder Genre hat das Potenzial, nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu inspirieren und aufzuklären. Im Endeffekt kann aber nur in der Rezeption entschieden werden, ob eine Erzählungen echte Diversität und menschliche Erfahrungen abbildet. Deshalb lade ich ein, meine Erzählung kritisch zu lesen und über die damit verbundenen Fragen zu reflektieren. Gemeinsam können wir an einem neuen Verständnis arbeiten – für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Geschichten, die wir erzählen.

 

Morgen erscheint meine Erzählung "Wild ist das Land" als Heftroman im Verlagsimprint NOVO-Books des kleinen, handgemachten VSS-Verlags.

 

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